Es ist, als würde mir das Himmelszelt zuzwinkern. Geschieht mir das wirklich, oder ist es eine optische Sinnestäuschung, in dem Moment, in dem meine Augen blinzeln? Zwinkernd und Blinzelnd versuche ich, wach zu bleiben, schaue in den Himmel – warte. Dieser Augenblick, in dem ein Stern in einer leuchtenden Bahn über den Himmel zieht, verzaubert mich seit meiner Kindheit und erinnert mich an Sommernächte, in denen meine Schwester und ich gemeinsam in den Nachthimmel geschaut und auf ihn gewartet haben. Hast du das gesehen? Nein, wo? Dort drüben. Schau da! Wow! flüsterten wir uns zu, uns gegenseitig vergewissernd, dass wir nicht träumten, so lange bis eine von uns einschlief und wir am Morgen nicht mehr unterscheiden konnten, was uns in unserer Wachzeit und was in unseren Träumen begegnet ist. Die Magie dieser Nächte taucht auf zusammen mit dem Gefühl, Zeugin eines grossen Geheimnisses zu sein. An die unglaublich anmutende Gewissheit, zu denken, dass das Zwinkern mir gilt, mich meint, in diesem Moment, in dem ich tausende von Kilometern entfernt auf der Erde liege. Mit einem Lächeln zurückzuzwinkern: Ich habe dich gesehen. Dieser Moment aus einer langen Kette von Kindheitserinnerungen ist gegenwärtig, als ich zwischen Schlafen und Wachen in den Nachthimmel schaue und sich Räume und Zeiten vermischen.
Am Morgen rufe ich meine Schwester an, um nach ihren Erinnerungen an diese Sommernächte zu fragen. Sie erinnert sich genau und doch ganz anders: An einem Abend beim Eindunkeln hat sie den Osterhasen gesehen. Hast du ihn gesehen? Wo? Dort drüben bei der Hecke…Glaube ich nicht. Doch, er war es wirklich! Etwa so könnte unser Dialog gelautet haben. Wir lachen über die phantastische Welt, die aus unseren Erinnerungen aufscheint. Die Begegnungen, die für uns gleichzeitig unglaublich und wahrhaftig waren. An die Zeit, bevor sich die Geheimnisse langsam aus unseren Leben zu verabschieden begannen und sich an ihrer Stelle die Gewissheit breit machte, dass es bessere Erklärungen gab für die Phantasmen, die eben noch gültig waren. Nachdem für uns die Beziehung zu einer lebendigen Mitwelt selbstverständlich war, wurde sie nun in unser Inneres umgesiedelt, in die Sphäre der Imagination. Auf einmal galten unsere Verbindungen zu Osterhasen und Sternschnuppen als «blühende Phantasie», die sich an der Schwelle zum Erwachsenwerden als Unreife oder Peinlichkeit entpuppte.
Wir leben in einer rationalen Welt. Sogar für die zauberhaftesten Phänomene wie Regenbogen gibt es Formeln für die Berechnung des Lichtspektrums aus denen sie beschaffen sind. Ich erinnere mich an meinen mit dem Physikunterricht verbundenen Wunsch, dieses Wissen zurückzugeben. Ich wollte nichts damit zu tun haben.
Wir lernen Entwicklung und Fortschritt, erklären Ursachen für die Ereignisse in unserer Umwelt, vermessen und rationalisieren sie. Den Status, den wir uns dadurch zuschreiben, unterscheidet uns nicht nur von Kindern, sondern auch von anderen irrational Denkenden wie Verrückten oder Unterentwickelten am andern Ende der Welt. Diese Anderswelten sind unsere Peripherien, wegweisende Referenzen für unsere prominente Stellung in Raum und Zeit. Die Folge von Intellektualisierung und Rationalisierung ist die «Entzauberung» [1], das «Verstummen»[2] der Welt und den Verlust unserer Beziehung mit ihr in «Wechselseitigkeit»[3]. Wir erschliessen uns die Welt linear, in Ursache-Wirkung-Zusammenhängen, Rezepten, Formeln, Zahlen, Daten, Fakten. Wir befinden uns im Zentrum einer in Endlosschlaufe auf uns referenzierenden Umwelt. Wer daran krankt, boostet oder diszipliniert, zerstört oder betäubt sich und seine Umgebung, so wie der Song über Ziggy erzählt, den ich gerade höre.[4]
In diesen klaren Nächten ist die Zahlen-Daten-Fakten-Welt, mein physikalisches Wissen über Spektralfarben und Sternenstaub, das ich damals im Physikunterricht gerne zurückgegeben hätte, Lichtjahre entfernt. Zwischen Schlafen und Wachen vermischen sich Räume und Zeiten und plötzlich fühlt es sich so an, als wäre ich Teil eines grossen Geheimnisses. Ich liege auf dem Rücken, schaue in die Sterne, warte, blinzle, lächle und zwinkere zurück.
Zum Vertiefen:
[1] Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 1917.
[2] Hartmut Rosa, Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2016.
[3] Astrid Habiba Kreszmeier, Natur-Dialoge: Der sympoietische Ansatz in Therapie, Beratung und Pädagogik, 2021
[4] David Bowie, The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars, 1972.