Es gibt zwar solche, die ich mehr mag als andere, aber grundsätzlich mag ich Zahlen nicht besonders. Ich mag Buchstaben. So die Hierarchie meiner Vorlieben bis vor kurzem. Weil diese Geschichte aber wie jede andere in der Vergangenheit beginnt, müsste hier eigentlich stehen: Ich mochte Zahlen nicht besonders. Und vielleicht ist die Spitzfindigkeit, die in diesen Zeilen wohnt, mit meiner Ablehnung gegenüber Zahlen verbunden, die ja inzwischen schon ein wenig verblasst ist. Weil die Spitzfindigkeit eben auch in den Zahlen wohnt, fällt es mir allgemein schwer, sie bei mir zu behalten. Ich kann mir weder Telefonnummern noch Postleitzahlen merken; weiss nicht, wie alt mein Gottenkind ist, geschweige denn, in welchem Jahr geboren; war verloren im Zeitalter, bevor mein Telefon Zahlen und Menschen verband. Ich benutze heimlich meine Finger, um nachzuvollziehen, wieviel ich für Kaffee und Gipfeli auf den Tisch legen muss, wenn ich ein Lokal verlasse. Etwas in mir weigert sich hartnäckig, diese Abstraktionsleistungen zu erbringen. Die Fähigkeit meiner Finger, etwas handfest zu machen, hat mir die Bedeutung des Wortes begreifen erst richtig vergegenwärtigt. Sind meine Finger besetzt, kann ich wegen Zahlen in schwierige Situationen geraten. Kellner*innen, die – beide Hände am vollen Tablett – Kaffee und Gipfeli zusammenzählen ohne die Bestellung vom Nebentisch zu vergessen, beeindrucken mich. Besonders seit es mir nicht einmal bei einer angesichts von Regenwetter kaum ausgelasteten Sonnenterrasse gelang, Rivella und Kafi fertig so einzukassieren, dass mir Gäst*innen und Wirtin wohlgesonnen blieben.
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«Zahlen sind abstrakte mathematische Objekte beziehungsweise Objekte des Denkens (…)» definiert Wikipedia und reiht damit Wörter aneinander, die genau das Gegenteil davon ausdrücken, wie ich mir eine Beziehung mit der Welt wünsche: konkret, subjektiv, handelnd. Diese Geschichte erzählt also eine Beziehungsgeschichte von subjektivem in der Welt Handeln und – Zahlen.
Vielleicht war ich damals auf der verregneten Sonnenterrasse nicht grundsätzlich fehl am Platz. Es gibt vieles am Gastgeberinnentum, das ich mag. Zum Beispiel: dass kein Tag so ist, wie der andere, dass mir verschiedene Menschen aus ihren Leben erzählen, dass ich Teil eines komplexen atmosphärisch-interaktiven Geschehens zwischen Raum und Besuchenden bin, in dem Momente entstehen, die sich so anfühlen, als würde alles perfekt zusammenkommen. Bevor ich dieses Jahr Gastgeberin bei la chamoise wurde, musste ich also meine Beziehung zu Zahlen gründlich überdenken. Dabei waren es vor allem zwei zahlenbelastete Bezüge, die mich beschäftigten: jener zu Zeit und jener zu Geld.
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Für meine Gästinnen und mich wünschte ich mir einen Alltag, der sich weder an einem strengen Takt ausrichtet noch im Handel von Leistung gegen Geld erschöpft. Ich wünschte mir einen Alltag, der sich an Rhythmen des Zyklischen orientiert und nach einer Ökonomie der Balance strebt, die grössere systemische Bezüge mitdenkt und Beziehungen öffnet, statt schliesst. Konkret bedeutete das, dass ich meine Gästinnen und mich einlud, unseren Alltag ohne Plan und beim sich entwickeln zu erleben und jede selbst bestimmen zu lassen, was und wieviel wir beitragen wollten – auch monetär. Ein Risiko, meinten Stimmen aus meinem Umfeld. Eine Forschung, dachte ich, die mir wichtige Fragen zu Alternativen des Wirkens und Wirtschaftens ins Zentrum stellte und Antworten lieferte, die ich mir nie erträumt hätte.
Zeit ist in vielen Alltagen eine hart gehandelte Währung, ein Gut, das in einer Marktlogik gesprochen durch seine (gefühlte) Verknappung ständig an Wert zunimmt. Wenn eine Zahl bestimmt, wann ich aus dem Schlaf geklingelt werde, ist das etwas grundlegend anderes, als wenn die Sonne mich aufwachen lässt, weil mein Körper bemerkt, dass es hell wird oder weil ich höre, dass meine Mitmenschen und die Vögel vor dem Fenster schon im Gespräch sind. Wenn Zahlen als «Objekte des Denkens» natürliche Vorgänge, Beziehungsangebote aus unserer Mitwelt übersteuern, leben wir auch in einer abstrakteren, durch Zeitfenster und daran geknüpfte Aufgaben getakteten Welt. Wir entfernen uns vom begreifenden Handeln, das sich an dem orientiert, was eine Armlänge vor uns liegt. Hand-in-Hand arbeiten, leben, wirken ist per se begreifend. Es richtet sich nicht nach der Uhr und danach, welche zeitgebundene Funktion wir mit der Bewegung des Zeigers erfüllen sollten. Es orientiert sich daran, was uns eben gerade die Hand reicht, uns einlädt, ein Angebot macht, eine Frage stellt, um etwas bittet oder etwas schenkt. Damit wächst die Aufmerksamkeit für die Einladungen, die unsere Mitwelt für uns bereithält und unsere Beziehung zu ihr gewinnt an Tiefe.
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In meiner Erfahrungswelt dieser Saison entstand so Kooperation, oder, lieber gesagt: ein Hand-in-Hand-Alltag. Dieser Alltag war unterschiedlich, je nachdem, welche Hände darin tätig waren, welches Wetter durchzog, welche Stimmungen und Themen in der Luft lagen. Er war einfach zu leben, entstand mühelos und wie von selbst. Er war reich an Geschenken. Er wurde nicht zur Bürde und konnte gar nicht erst an der Unmöglichkeit scheitern, ihn vorauszusehen, zu regeln oder zu verplanen.
Es ist die Allianz von Zeit und Geld, die unsere Alltage beschleunigt. Unsere Arbeit, unser Wirken in der Welt ist geprägt von Effizienz-, Steigerungs- und Optimierungslogiken. Sowohl an der Zeit, über die wir verfügen, als auch an unserem Wirken klebt ein Preisschild. Ein Preisschild, auf dem unterschiedliche Zahlen stehen, je nachdem wem die Zeit und die Wirksamkeit zugeschrieben wird. Möglichkeiten, diese Zahlenwerte nach oben zu verändern, sind begrenzt. Das zeigt ein Blick in die Welt hinaus oder auch schon jener in die eigene Nachbarschaft. Tellerwäscher werden vor allem im feuchten Traum einer kapitalistischen Gesellschaft Millionäre. Ausserhalb dieses Traums werden Menschen mit mehr oder weniger Privilegien geboren.
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Eine Ökonomie der Balance denkt in ihrem Beitragsverständnis systemische Bezüge mit. Sie entfernt die Preisschilder von individuellen Zeitguthaben und Wirksamkeiten. Sie verteilt Privilegien um. So werden Zeit und Wirken entkapitalisiert und von Effizienz-, Steigerungs- und Optimierungslogiken befreit. Der dadurch entstehende Frei-Zeit-Raum nährt einen Hand-in-Hand-Alltag. Umverteilung befreit Privilegien aus der Logik des ungleichen, bilateralen, (ab)schliessenden Tauschhandels, der immer die gleichen begünstigt. Umverteilung erlaubt es Privilegien in grössere Bezugsräume und Beziehungsnetzwerke zu fliessen und Verbindungen wachsen zu lassen, die über simple Hin-und-Her-Transaktionen hinausgehen. Eine Ökonomie der Balance feiert die Vielfalt des Beitragens und die Vielseitigkeit von Beziehungen, die dadurch entsteht.
Angeregt durch die Idee des balancierten Haushaltens trugen meine Gästinnen auf so vielfältige und kreative Art zu unserem gemeinsamen Alltag bei, dass ich mich täglich reich beschenkt fühlte. Einen Zahlenwert – Geld – beizutragen, wurde zur bezugsreichen, komplexen Angelegenheit. Weil ich sie meinen Gästinnen anvertraute, bekam ich eine neue Perspektive auf Zahlen geschenkt: jenseits von festen Werten, orientierten sich ihre monetären Beiträge am gemeinsam gelebten Alltag oder an Ästhetik. Sie überwiesen Beträge, die einen Bezug zu unseren Gesprächen herstellten, Kombinationen von Zahlen, die mir Rätsel aufgaben, etwas andeuteten, eine Referenz machten oder solche, die einfach schön aussahen. Damit gaben sie Geld einen neuen Bezugsrahmen und verliessen die Logik der dominanten Systeme des Wirtschaftens so fundamental, dass ich nur verblüfft und staunend auf meinen bisherigen Horizont blicken konnte. Ausgerechnet meine Kontoauszüge führten mich in eine neue Zahlenwelt, deren Sprache ich faszinierend finde und gerne lerne.
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Hier, wo ich jetzt bin, ist kein abstrakter Raum des Denkens, kein utopischer Nicht-Ort. Hier, wo ich jetzt bin, bin ich eingewoben in ein Netz von Verbindungen. Ein Netz, an dem meine Gästinnen mitgewoben haben: konkret, subjektiv, handelnd. Es besteht aus Fäden, die sich kreuzen, umwickeln, verflechten und verknüpfen. Es ist ein komplexes, bewegliches und widerstandfähiges Gebilde. Es ist robuster, als es ein einzelner, noch so starker Faden je sein kann, insbesondere dann, wenn er an den Enden zum Zerreissen gespannt wird, weil beide Gegenüber versuchen, ihn ein Stück mehr auf ihre Seite zu ziehen. In dem Netz, das mich trägt, finden sich neben den schönen Zahlen, Erinnerungen, Gespräche und Geschichten, Geschmäcker und Gerüche, Farben und Texturen, geteilte Momente, Emotionen und Begegnungen. Von hier aus schaue ich dankbar auf die vergangene Saison zurück und der kommenden und meinen Aufgaben als Gastgeberin mit Freude entgegen. Ich habe erfahren, dass diese Aufgaben weit mehr beinhalten, als eine Dienstleistung gegen Bezahlung zu erbringen, so wie ich es damals beim Servieren auf der verregneten Sonnenterrasse vielleicht bereits geahnt und trotzdem erfolglos versucht hatte. Und, um die Spitzfindigkeit hier zum Schluss noch einmal einzuladen, kommen diese Aufgaben vielleicht besser aus ohne «Auf-». Denn dann werden sie zu Gaben. Gaben, die ein Netz von Verbindungen knüpfen und mich besser begreifen lassen, was dieses Netz zusammenhält. In diesem Sinne: Auf bald chez la chamoise!
Zum Vertiefen:
Robin Wall-Kimmerer & Charles Eisenstein zur Bedeutung der Gabe und zu Ökonomien des Schenkens.
Liebe Sabina
Vielen Dank für die schönen Bilder und für deinen guten Text, der mich zum Nachdenken anregt. Gruppen und Geben und zusammen an etwas arbeiten und von Freundschaft. Davon spricht auch Milo Rau in seinen Poetikvorlesungen. Gerade habe ich 2 der Poetikvorlesungen „Warum Kunst“ von ihm gehört und so passt dein Text auch zu seinen Gedanken. (wobei ich bei ihm sicher noch nicht alles verstehe, nur ahne)
Ih wünsche dir eine gute Zeit. Herzlich Margrit
Danke liebe Margrit! Eine Poetikvorlesung bei Milo Rau klingt sehr interessant. Dir auch eine gute Zeit und auf bald, Sabina
Liebe Sabina
Herlich dieser Text- Danke! – zum Nachdenken angeregt und auch ein wenig beschämt, dass ich mich noch nie in dieser Form um das Thema der mit nicht so nahe stehenden Zahlen gekümmert habe, werde ich mir Zeit nehmen, um mich vertieft damit zu befassen 🙂
E gueti Ziit
Brigitte
Danke dir liebe Brigitte, dass du hier reinliest. Ja gell, ich konnte es mir bis vor kurzem auch nicht vorstellen, dass Zahlen noch etwas anderes auslösen können als Leere in meinem Kopf 🙂 Herzlich, Sabina
Liebe Sabina
Wer weiss, vielleicht steht im Anhang schon bald ein Buchtitel von dir. Mein Herz wird weit, wenn ich deine Zeilen lesen. Es macht mir Mut, alte Strukturen weniger halten zu wollen und meinen Lebensspaziergang ein bisschen anders zu gestalten.
Liebst Christine
Wie schön Christine – danke für deine Worte! Ich stelle mir gerade vor, wie es wird, wenn wir das gemeinsam tun: unsere Lebensspaziergänge an alten Strukturen vorbei zu gestalten. Lass uns dort treffen! Von Herzen, Sabina
Bin sehr beeindruckt von dem Text und den unglaublich schönen Fotos! Danke für dein Wirken Sabina. Herzlich, Beate
Danke dir Beate fürs Teilen und Teilhaben und für die Inspiration auf verschiedenen Ebenen!