Menschen um mich herum fahren nach Südfrankreich, nach Sardinien, ins Piemont. Ich fahre heute in den Ballenberg und der Weg dorthin fühlt sich ein wenig so an wie eine Fernreise: Für die knapp 60 Kilometer Luftlinie bin ich drei Stunden unterwegs und steige vier Mal um: In Frutigen. In Spiez. In Interlaken. Und in Brienz. Das Freilichtmuseum Ballenberg ist Pilgerstätte für an traditionellem Handwerk und an alten Kulturtechniken Interessierte. An diesem Spätsommertag im August zeigt Margrit Linder, wie man aus Pfeifengras Handbesen flechtet – ein traditionelles Frauenhandwerk, das vom Aussterben bedroht ist.

Margrit ist Kunsthandwerkerin und Dokumentarfilmerin mit einer Leidenschaft fürs Flechten. Dieser Leidenschaft ist sie gefolgt und hat die Arbeiten von Flechterinnen in Borneo und in den Schweizer Alpen dokumentiert. Darauf gewachsen sind Bekanntschaften, Filme, ein reiches Repertoire an Flechttechniken und damit verbundene Geschichten. Einen Teil dieser Geschichten wird Margrit heute erzählen, während wir uns dieses von Generation zu Generation weitergegebene Handwerk anzueignen versuchen, damit es weiterlebt.

Bevor wir uns auf den Weg machen, um das Pfeifengras zu ziehen, tauchen wir ein in die Geschichten der Schmalbesen. Und die ist faszinierend und verblüffend. Wir sehen uns Bilder an von den zwei Flechtarten, die wir heute kennenlernen werden: Dem Habkern Schmalbesen und dem Urner Riedbesen. Die Hände der Flechterinnen, die mit diesen Techniken noch so vertraut waren, um sie an Margrit Linder weiterzugeben, zeigen die Spuren, die das Alter und die Handarbeit hinterlassen haben. Es scheint, als würde sich mit ihnen ein uraltes Körperwissen aus der Welt verabschieden, nun, da sie sich im Schosse der letzten Handbesen-Flechterinnen ausruhen. Welche Tradition mit diesem Körperwissen verbunden ist, wird deutlich anhand eines Bildes, das Margrit einblendet. Es zeigt einen über 1000-jährigen Handbesen, der im Gebiet der Seidenstrasse gefunden wurde. Und, die Art, wie er geflochten ist, gleicht jener aus dem Schweizer Alpenraum auf verblüffende Art und Weise. Wie kann das sein? Wenn sie könnte, würde Margrit den Handbesen aus seiner sicheren Verwahrung im Museum befreien und aufflechten, um die Technik genauer anzuschauen und dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Nun aber ist es Zeit zum Aufbrechen, um die Pfeifengräser für unsere Flechtübungen zu ziehen.

Pfeifengräser wachsen in Riedgebieten. Wenn man sie einmal kennt, meint Margrit, findet man sie überall. Gerade kürzlich hat sie die Gräser in der Berner Innenstadt begegnet, wo sie zuoberst auf dem Meret Oppenheim Brunnen wachsen, einem innerstädtischen Mikro-Feuchtgebiet. Heute ziehen wir die Halme an Steilhängen oberhalb des Brienzersees und binden sie zu Bündeln zusammen. Die Gräser wachsen hier in robusten Halmen. Fast zu dick für schöne Besen, meint Margrit und anspruchsvoll zum Flechten. Ich bin fasziniert von den Halmen und ziehe trotz dem Hinweis ein paar Dickere heraus, weil sie mir so gut gefallen. Sie sind getönt in einer Schattierung von Grün, ganz hell, dort, wo sie herausgezogen werden bis zu dunklem Violett an den Samenständen. Diesem Moment, dieser Bewegung, mit der unsere Hände die Gräser für die Schmalbesen ziehen, ihre Anmut bewundern und uns die Sonne noch einmal ihre ganze Kraft spüren lässt, wohnt etwas Zauberhaftes, etwas Friedliches inne. Der Wind trägt mir die Stimmen der Frauen, ihr Lachen und einen Hauch Wehmut entgegen. Der lange Sommer ist dabei, sich zu verabschieden. Neben uns hängen die Dolden eines Holunderstrauchs schwer voller überreifer Beeren.

Später zeigt uns Margrit die Flechttechniken, zeigt uns jene Handgriffe, die sie von Hedy Zenger aus Habkern und von Theres Arnold aus Bürglen gelernt hat. Dass Hedy die Gräser kaum eindreht und Frau Arnold den Knoten von Hier nach Da knüpft, könnte kein Youtube-Clip vermitteln. Es sind von Generation an Generation weitergegebene Handgriffe, die sich im Körpergedächtnis ablegen. Sie gehören ins weibliche Handlungsrepertoire, dienten der Herstellung von Gebrauchsgegenständen und waren über Jahrhunderte hinweg unbedeutend für die Geschichtsschreibung, wie sie traditionellerweise gepflegt wurde. Sind diese über Generationen überlieferten Handgriffe so naheliegend, dass sie in Habkern ähnlich ausgeführt wurden wie an einem weit entfernten Ort an der Seidenstrasse? Aus der Perspektive einer Flechtanfängerin erscheint mir dieser Gedanke unwahrscheinlich. Die Handgriffe erschliessen sich erst, indem sie wieder und wieder ausgeführt werden. Beim Biegen, Drehen, Flechten und Knüpfen der Gräser wächst in mir das Gefühl, dass diese Handgriffe nicht einfach einer praktischen Produktionslogik folgen, sondern dass darin die Absicht angelegt ist, etwas Schönes zu fertigen. Margrit ermutigt uns, mehrere Besen zu flechten. Ihr Antrieb, uns die Techniken beizubringen, ist spürbar, und wir flechten einen Besen nach dem andern, ohne Pause, bis alle Halme aufgebraucht sind. Drei Gruppen hat Margrit dieses Jahr angelernt, die Handbesen so zu flechten, wie sie es von Hedy Zenger und von Theres Arnold gelernt hat. Eine Handvoll Frauen und ein paar Männer. So hofft sie, dass dieses traditionelle Handwerk weiterlebt, nicht nur im Heimatmuseum oder im Dokumentarfilm, sondern durch die Hände von Flechter*innen, deren Handgriffe eine Brücke schlagen zwischen den Generationen vor und nach ihnen.

5 Kommentare

  1. Liebe Sabina
    So schön! Heute war mein Backtag so kamen meine Besen zum ersten Einsatz. Sie funktionieren super. Ich habe nur gestaunt, wie sauber der Ofen wurde. Und immer wieder tauchen die schönen Erinnerungen an den Kurs auf, die du so treffend beschrieben hast.
    Liebe Grüsse
    Lotti

    • Liebe Lotti
      Danke für deine Zeilen. Ein schönes Bild, wenn ich mir vorstelle, wie du deinen Backofen mit dem selbst geflochtenen Schmalbesen auswischst 😉
      Herzlich, Sabina

  2. Liebe Sabine,
    danke für Dein Erinnern an unseren beglückenden Kurstag. Nach zuerst vergeblichem Suchen im marais rouge, habe ich in den Jurawäldern oberhalb Le Locle in kleinen Sümpfen unser Molinia caerula Gras gefunden. Es ist von der ganz dünnen Sorte. Ich warte nun bis Margit für einen kleinen Nachhilfeunterricht vorbeikommt und sammle noch Gräser bevor sie vom ersten Schnee geknickt werden. Liebe Grüsse, Regula

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