Nebelschwaden begleiten mich, und ich bin dankbar dafür, dass sie da sind. Mich schauderts davor, herunter zu blicken. Bin ich schwindelfrei? Das Gelände ist steil, und in meinem Körper breitet sich die Ahnung aus, dass es schwierig sein könnte, hier abzusteigen. Der Nebel mutet mir ein Sichtfenster zu, das ich gut aushalte. Alles andere bleibt sanft verhüllt. Aus der Erinnerung weiss ich, dass ich bei Nebel nicht in die Berge gehen sollte, aber heute erscheints mir stimmig zu sein. Ich bin unterwegs ins andere Tal. Mich rufen die verschiedenen Übergänge, die Pässe, über die Menschen vor mir gegangen sind, zu einer Zeit, als das Dorf noch abgelegener war als heute. Sie haben ihre Ware transportiert, um sie auf dem Markt zu verkaufen oder um jemanden zu besuchen. Ein Pass hier heisst Chindbettipass und erinnert an die Geburt eines Kindes unterwegs. Gewiss handelte es sich bei dieser Passquerung nicht um eine Bergtour, die freie Zeit ausfüllen sollte. Welche Gründe eine Frau auf dem Höhepunkt ihrer Schwangerschaft wohl gehabt hat, um einen Pass auf 2600 Meter zu überqueren?

Vor mir gehen zwei Frauen und ein Hund. Der Hund zieht an seiner Leine und die Frau am anderen Ende gibt ihm zu verstehen, dass sie seine Kapriolen hier nicht toleriert. Über Stunden folgen wir gemeinsam dem Pfad, gehen Schritt für Schritt, langsam, aber stetig. Langsam, aber stetig, mit diesen Worten hatte mich mein Vater, den ich als Kind auf Bergtouren begleitet habe, ermahnt, wenn ich, wie der Hund an der Leine, vorausrennen wollte. Heute verstehe ich und spüre, wie sich mein Körper allmählich in die Bewegung einschwingt. Schritt für Schritt. Langsam, aber stetig. Ich gerate in einen tranceähnlichen Zustand, fühle mich auf diesem Pfad wie entpersonalisiert und doch verbunden, bin Bewegung, mein Vater, die Menschen vor mir, die diesen steilen Pfad hochgingen. Vor mir weiss ich die zwei Frauen und den Hund, die ab und zu am Rand meines Nebelfensters auftauchen.

Heute ist Bergwandern im Berner Oberland hauptsächlich Freizeitbeschäftigung. Aktive Erholung, wie es eine Leistungsgesellschaft gerne nennt. Die Beziehung zu den Bergen hat sich verändert. Sie geben die Kulisse, vor der die Besuchenden Kilo- und Höhenmeter sammeln, verlorene Kalorien zählen, Fotos mit auserwählten Hintergründen von sich machen, Gipfel oder sich selbst bezwingen. Ich stelle mir gerne vor, wie sich die uralten Riesen über dieses Treiben amüsieren. Die Ruhe und die Kraft, die sie ausstrahlen, lässt keine Missverständnisse darüber aufkommen, wer hier im Zentrum steht. Das wird spätestens zu Hause auf dem Sofa klar, wo wir sie auf den Fotos dafür bewundern, wie schön sie hinter den Menschen in verschwitzter Funktionskleidung aussehen.

Oben auf dem Pass ist es kalt, und ich ziehe alles an, was ich in meinem Rucksack heraufgeschleppt habe. Ich schaue dem Nebel zu, wie er über die felsigen Flanken aufsteigt, sie wie in einem Spiel ein- und enthüllt und eine vollständige Gestalt nur aus den verschiedenen Fragmenten erahnen lässt. Ich sehe die umliegenden Gipfel nicht und trotzdem nehme ich sie deutlich wahr, spüre ihre Anwesenheit. Das Wort Ehrfurcht fällt mir ein. Ein historisch besetzter Begriff, der meine Gefühlslage in diesem Moment doch recht gut beschreibt. Ich fröstle. Dieser Platz ist keiner zum Verweilen. Die beiden Frauen und der Hund haben auf der letzten Alp einen anderen Weg eingeschlagen. Es sind keine anderen Menschen hier. Ganz leise höre ich das Gebimmel der Glocken von Schafen, die weiter unten weiden.

Mit jedem Meter, den ich absteige, lichtet sich der Nebel und das Leben kommt in die Landschaft zurück. Zwischen den Felsbrocken begegnet mir plötzlich eine Gämswurz. Ihr Gelb hebt sich von den Grautönen des umliegenden Gesteins ab und ihre Blätter wirken erstaunlich fleischig in dieser kargen Landschaft. Sie leuchten vor sich hin inmitten dieses Geröllmeeres. Weil sie von den Gämsen gerne gefressen wird, erzählt man sich über sie, dass ihr Verzehr von Schwindel befreit. Weiter unten nimmt die Blütenpracht zu, die Vegetation erscheint mir üppiger als auf der anderen Seite des Passes. Oder ist es mein Blick, der sich verändert hat? Jede Passwanderung ist ein Übergang, führt vom Einen ins Andere. Mit ihr lassen wir Bekanntes zurück und begegnen Neuem. Unsere Umgebung verändert sich dabei. Und wir – Schritt für Schritt – mit ihr.

 

Für Wanderer*innen:

Die beschriebene Passwanderung verbindet Engstligental und Simmental: Sie beginnt bei der Schärmtanne in Adelboden und führt übers Furggeli durchs Färmeltal nach Matten im Simmental.

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