Es gibt Bäume, die ich besonders mag. Zum Beispiel alte Wettertannen. Manche von ihnen haben Äste, die bis zum Boden reichen. Wenn man von einer solch alten Tanne eingeladen wird, sich hinter ihren Ästen gemütlich am Stamm anzulehnen, wird man für die Aussenwelt unsichtbar. Gleichzeitig sieht man von drinnen alles. Im Frühling ist die beste Zeit, um Wettertannen zu besuchen, an ihren Stämmen zu lehnen, unter ihren Ästen zu liegen, weil dann noch keine Kühe weiden, die ebenfalls ihre Nähe suchen und den einladend nadligen Boden sofort in Matsch verwandeln.
Heute besuche ich eine alte Bekannte. Sie ist eine uralte Riesin, mächtig und mit dichtem Astwerk. Wenn man darunter liegt und hinaufschaut, ist es unmöglich, den Himmel zu sehen, weil sich davor knorrige nadlige Arme wild übereinander kreuzen. Sie hat einen rauhen, schuppigen Stamm und macht den Eindruck, als könne sie einiges aushalten und hätte schon alles erlebt. Etwas zerzaust und struppig ist sie, aber genau sie lädt mich ein an diesem Waldrand. Ich besuche sie seit ein paar Jahren, sitze bei ihr, mache ein Nickerchen bei ihren Wurzeln, lasse mir ihre Geschichten erzählen.
Heute ist der Himmel blau und die Frühlingssonne scheint. Frischer Schnee der letzten Tage liegt auf der Weide, aber um den Stamm ist der Boden trocken. Ich lege mich hin und schaue hinauf in die Äste. Die Anordnung dieser nur scheinbaren Unordnung fasziniert mich. Was ist ihr Geheimnis? Und dann plötzlich bemerke ich, dass es regnet. Es tropft von den Nadeln, feiner Sprühregen, rieselnde Eisklümpchen und ab und zu volle, fette Tropfen, so wie sie bei einem Sommergewitter als erste auf den Boden klatschen. Es rieselt und nieselt, platscht und plätschert in diesem wilden Astraum. Draussen brennt die Sonne auf die schneebedeckten Hänge und hier drinnen regnet es. Gleichzeitig. Aber irgendwie andersrum. Draussen ist drinnen. Wo sonst trocken ist, ist nun nass.
Dieses Getropfe im Tannenraum inmitten des Frühlingserwachens ist so wunderbar überraschend für mich, dass ich in die Äste hinauflache, die laufend neue Tropfen zu mir hinunterfallen lassen. Wie tausend Kristalle hängen sie in den Nadeln und die Sonne malt kleine Regenbogen hinein. Während ich mich berieseln und beplätschern lasse, erwacht in mir eine unbändige Lebensfreude. Ich schaue mich um und bemerke neben mir erste Blätter von wilden Erdbeeren, einen Nadelhaufen, in dem die Ameisen noch etwas langsam, aber zielstrebig herumkrabbeln, braune Gräser, die den neu nachwachsenden Schutz geben, eine Schlüsselblume, die nach dem Schneefall etwas welk, aber lebendig in der Landschaft steht. Die Wettertanne tränkt die frisch Erwachenden aus ihrem Nadeldach. Welch Glück, dass ich ausgerechnet heute zu Besuch gekommen bin, um bei Sonnenschein und Regen mitaufzublühen.