Seit ein paar Jahren bewegt mich das Handwerk. Nach einer längeren Lebensphase, die von Denkarbeit geprägt war, wollten meine Hände plötzlich Gärtnern, Stricken, Nähen. Sie suchten die Nähe zur Erde, zu Geweben und Texturen und fühlten sich auf der glatten Oberfläche der Tatstatur zunehmend fremd. Während ich erstaunt und neugierig meinen Händen zu folgen begann, schüttelte mein soziales Umfeld den Kopf und beklagte die nun scheinbar vergeudete Investition in mein jahrelanges akademisches Training. Dieses kopfschüttelnde Umfeld und meine Hände schickten mich auf eine Reise, begleitet von der Ahnung, dass die Lehr- und Wanderjahre in meinem Leben nicht eine Sequenz, sondern ein Zustand sind.

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Wie konnte es geschehen, dass sich ein Wertgefälle zwischen Handwerk und Denkwerk aufspannte; dass Wissensarbeit in der Logik des Marktes mehr Wertschätzung erfuhr als Handarbeit; dass körperlich arbeitende, overall-tragende Menschen in der Kaste der blue collars von weisshemdigen Büroangestellten getrennt wurden? Mich fasziniert die Erkenntnistheorie, die Art und Weisen, wie wir über die Welt und uns darin nachdenken. Dank dieser Faszination begegnete ich den Büchern des Philosophen Matthew B. Crawford, der von seinem akademischen Weg abkam, um in einer Motorradwerkstatt dem Handwerk eines Mechanikers nachzugehen. In Ich schraube, also bin ich beschreibt er die historisch gewachsene Trennung von Denken und Tun. In Die Wiedergewinnung des Wirklichen regt er an, die Theorien der Aufklärung stärker in ihren historischen Bezug einzubetten. So lässt sich nachvollziehen, wie der Ursprung unserer moralisch-politischen Ordnung gleichzeitig auch die Art und Weise prägte, wie wir über die Welt nachdenken. Zur Zeit der Aufklärung wurde geistige Unabhängigkeit zur Voraussetzung für politische Freiheit. Für das politische Programm des Liberalismus war es zentral, die Wahrheit nicht in der von Autoritäten geprägten Welt, sondern in den frei denkenden Köpfen zu verorten. Dieser Dreh, der im historisch-politischen Kontext Freiheit von Autorität gewährte, wertete gleichzeitig die handelnde, auf die Welt bezogene Wahrnehmung ab. Mit Folgen.

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Im Moment nähe ich Leder. Dabei lerne ich Demut: Vor dem Tier, dessen Haut als Abfall der Fleischindustrie sich zwischen meinen Händen irgendwie lebendig anfühlt; vor den Händen geübter Ledernäher*innen, die sich im Rhythmus Jahrhunderte alter Tradition vor mir bewegten. Gleichmütig anmutig. Demütig finde ich zu einer früher oft vermissten Geduld, die meine Hände Bewegungen wiederholen lassen – wieder und wieder. Dabei hoffe ich, dass sich meine verspannten Schultern irgendwann daran gewöhnen. Während meine Hände dabei sind, den Rhythmus zu finden, denkt es mir.

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Wohin hat uns dieser aufklärerische Dreh geführt? Ich folge Crawfords Erzählung über das in der Zeit der Aufklärung geborene liberale Selbst, das sich mittlerweilen als Individualist*in versteht. Obwohl es im politischen System mitreden darf, ist dieses nach Selbstverwirklichung strebende Individuum in der Art und Weise, wie es in der Welt handelt, alles andere als frei. Es ist verstrickt in ausgeklügelte Architekturen, die seine Aufmerksamkeit gezielt lenken. Seine Aufmerksamkeit wurde monetarisiert und ist zunehmend manipulativen Technologien ausgesetzt, die mächtiger sind als seine Fähigkeit zur Impulskontrolle. Wem bei einer Rechereche im Internet plötzlich die Frage auftaucht, wonach er oder sie eigentlich gesucht hat, kennt das Prinzip. Das nach Selbstverwirklichung strebende Individuum lebt in einer ökonomisierten Welt, in der Entscheidungsarchitekten Aufmerksamkeitsslandschaften mit der Absicht entwerfen, Produkte zu verkaufen.

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Ist mein Werkstück, das langsam Gestalt annimmt, ein Produkt? Ist es Teil einer weltumspannenden Logik, die Produkte zu Konkurrenten macht? Mir ist unbehaglich dabei, meinem Werkstück einen Preis zuzuordnen, es zu monetarisieren und auf einem Markt von globalisierten Warenströmen auszusetzen. Und, mir wird so richtig unwohl, wenn ich mir vorstelle, wie mein Werkstück von einer Dynamik erfasst und Teil einer sich bedrohlich auftürmenden Müllhalde von Schrott wird, die wächst und wächst, um immer neuen Produkten Platz zu machen.

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Wenn es kein Produkt ist, was ist es dann? Crawford kontrastiert den dauererreichbaren, von einer Welt zur anderen zappenden, multitaskenden Homo digitalis des Kapitalozäns mit den Meister*innen der Handwerkskunst. Diesen Kontrast bezieht er auf die Aufmerksamkeits(ab)lenkung, die prägend ist für das jeweilige Handeln. Er beschreibt Handwerkstraditionen als Aufmerksamkeitsarchitekturen der gekonnten Praxis, in denen eine Ethik der Handlung die Aufmerksamkeit lenkt. Es ist die Einweihung in eine gekonnte Praxis, ein Weg, den die Tradition der Vorausgegangenen geprägt hat, welche die Wahrnehmung der Lernenden schult.

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Nun, es war mein Cousin, der mir gezeigt hat, wie man Leder näht – und youtube. Am meisten lerne ich aber ganz einfach vom Handwerken selbst: dem Zusammenspiel von Leder, Faden, Nadel, der Bewegung meiner Hände, einem erahnten Rhythmus, der irgendwo in meinem Körper zu wohnen scheint. Es gibt Momente, in denen meine Aufmerksamkeit in diesem Zusammenspiel aufgeht. Dann beruhigt sich der Gedankenstrudel in meinem Kopf. Bis neue Gedanken auftauchen: Was hat diese Haut, die ein Tier umfasste, mit der Welt da draussen zu tun? Was hat sie mit mir zu tun, die sie in eine Form bringt, damit sie etwas anderes beherbergen kann. Welche Erzählung will sie in die Welt tragen, und wie wird sie von der Welt erzählt werden? Während meine Hände den Rhythmus suchen, reisen meine Gedanken.

 

Zum Vertiefen:

Matthew B. Crawford, Ich schraube, also bin ich. Vom Glück, etwas mit den eigenen Händen zu schaffen, 5. Aufl. List Taschenbuch: Berlin 2016

Mathew B. Crawford, Die Wiedergewinnung des Wirklichen. Eine Philosophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung, Ullstein: Berlin 2015

*Dieser Text ist im Zusammenspiel mit einer writing community entstanden, die für den Blog Wildes Weben des Carl Auer Verlags schreibt und erstmals im Mai 2021 erschienen. 

 

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