Ich ziehe gerne herum. Dabei sammle ich, was mir begegnet: Eindrücke, Geschichten, Ideen, Kräuter, Harze. Aus diesen Ingredienzen mische ich in diesen Tagen Salben und Balsame. Es ist schwierig, zu erinnern, wann und wie eine Mischung ihren Anfang nimmt. Alles ist verwoben und jedem Anfang ging schon ein anderer voraus.
Die Salbe, die ich gerade fertig gerührt habe, begann damit, dass mir eine Freundin ein Büschel Zitronenthymian aus ihrem Garten schenkte. Das war Anfang November, als gerade eine zweite Corona-Welle die Zeitungen überspülte.
Meine Freundin hat einen wunderbaren Kräutergarten, den sie hegt und pflegt, und dieses Jahr war sie besonders reich beschenkt worden. Sie hatte die Kräuter über die Monate hinweg sorgfältig geerntet und getrocknet. Manchmal spricht mich ein Kraut besonders an. Und bei diesem Büschel Zitronenthymian war es so. Ich wusste sofort, dass ich es brauchen würde, sobald es Zeit war. Ich legte das Büschel zu meiner Kräutersammlung, die ich wie einen Schatz in einer tiefen dunklen Schublade des Schreibtisches hüte, an dem ich arbeite.
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In diesen ersten Novembertagen streunte ich an einem warmen Tag durch den sonnendurchfluteten Wald. Sobald ich einen Wald betrete, geschieht etwas mit mir. Die Waldwelt zieht mich in ihren Bann. Sie verzaubert mich. Immer wieder aufs Neue. Im Wald fühle ich mich auf eine besondere Weise wach. Was mir geschieht, ist schwer in Worte zu fassen, und wenn ich es versuche, erinnere ich mich an Zeilen von Rilke, in denen steht, «(…) dass wir in Worten nie ganz aufrichtig sein können, weil sie viel zu grobe Zangen sind, welche an die zartesten Räder in dem grossen Werke gar nicht rühren können, ohne sie nicht gleich zu zerdrücken.» [1]
An diesem sonnigen Tag begegnete mir eine alte Fichte, deren eine Seite fast vollständig mit Harz überzogen war. Der Baum hatte an einem Ast eine Wunde, von der das Harz heruntertropfte. Wenn ich Herz sammle, meine ich zu spüren, ob der Baum sein Harz selber braucht, oder ob ich ein wenig davon nehmen darf. Das Harz sammelte ich an diesem Tag in einer langwierigen Prozedur Tröpfchen für Tröpfchen – honiggelbe Perlen, die die Kraft dieses Baumes, den Geruch dieses Waldes in sich trugen. Beim Harz sammeln singe ich manchmal und wünsche mir, dass meine Dankbarkeit irgendwie bei meinen Baumgegenübern ankommt.
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An einem grauen Novembertag besuchte ich meine Eltern. Der Garten ruhte in nebligem Kleid und mein Vater zeigte mir, was er frisch gepflanzt hatte. Frühlingszwiebeln und Winterkefen. Der neue Zyklus beginnt mit dem zu Ende gehen des alten.
Neben den frisch aufgehäuften Erdhügeln stand ein Rosmarinstrauch in voller Blüte, der die Finger klebrig machte, wenn man mit der Hand über seine Zweige strich. Der Duft von Rosmarin fasziniert mich, diese Kraft, die er wie ein Versprechen in sich trägt. Der üppig blühende Rosmarin erschien mir Mitte November in starkem Kontrast zu dem, was die menschliche Welt um mich herum gerade von sich zeigte – Angst vor Corona, vor Krankheit und Tod – einen kollektiven Tunnelblick.
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Vor ein paar Tagen wurden meine Aufträge bis Ende Jahr abgesagt oder auf virtuell verschoben. So fuhr ich aus der Stadt raus in die Berge. Das Haus, in dem ich wohnen darf, wird geschützt von einer riesigen Wettertanne. Sie hält den Talwind ab, der hier ziemlich rau wehen kann – so rau, dass die Menschen im Dorf ein wenig Demut vor diesem Element bewahrt zu haben scheinen, wie mich ein Spruch an einem Haus lehrt. Die Wettertanne ist alt und überragt das Haus so, dass ich in ihren Ästen schlafe. Diese nadelige Umarmung gibt mir Schutz und ich fühle mich gut aufgehoben.
Was bedeutet Schutz in diesen Tagen? Die Frage taucht in meinen Gedanken auf, als ich beginne, die in den letzten Wochen gesammelten Kräuter und Harze in Öl auszuziehen – den geschenkten Thymian, den blühenden Rosmarin, ein paar frische Fichtennadeln, das Harz aus dem Zauberwald und ein wenig von der Wettertanne, die neben dem Haus wacht. Die leibliche Begegnung zwischen Menschen ist in Gefahr. Sie soll auf einmal gefährlich sein. Einen anderen Menschen zu umarmen, wird nun als Risiko eingestuft und nicht mehr als Geste von Zuwendung und vielleicht Trost. Ich brauche eine Schutzschicht, sagte eine Freundin letzthin zu mir, mir kommt diese Welt zu nahe. Bei der Schutzschicht bleiben meine Gedanken hängen. Ich mische Bienenwachs zu den Ölen und erinnere mich an das Gespräch, das ich im Sommer mit dem Imker auf dem Markt hatte. Er hatte mir eine lustige Geschichte über die geradezu magische Wirkung seines Honigs erzählt.
Die Salbe, die mit dem Rühren und Abkühlen eine balsamische Konsistenz annimmt, ist die Essenz meiner Begegnungen in den letzten Wochen, der Geschichten, denen ich zuhören durfte, der Landschaften, die ich durchstreift habe. Sie duftet ganz fein nach Wald, und ich wünsche mir, dass sie den Menschen, die sie in diesen Wintertagen einreiben, ein wenig von diesen Begegnungen erzählt.
Zum Vertiefen:
[1] Rainer Maria Rilke: Bücher, Theater, Kunst. Aufsätze 1896 – 1905 Hrsg. Von Richard von Mises. Frankfurt: Suhrkamp
*Dieser Text ist im Zusammenspiel mit einer writing community entstanden, die für den Blog Wildes Weben des Carl Auer Verlags schreibt und erstmals im Januar 2021 erschienen.